Wer die finanzielle Unabhängigkeit anstrebt, steht schnell vor der Frage: Welches Vermögen benötige ich? Als grobe Faustregel wird oft das 25-Fache der jährlichen Ausgaben genannt. Hintergrund für diese Empfehlung ist die berühmte 4%-Regel. Gemäß dieser kann man aus einem diversifizierten Portfolio pro Jahr 4% vom Startkapital sicher entnehmen.
Daraus folgt: Entnimmt man pro Jahr 4%, benötigt man dem Kehrwert der Entnahmerate (1 / 0,04 = 25) entsprechend das 25-Fache der jährlichen Ausgaben an Vermögen, um finanziell unabhängig zu sein. Denn 4% des 25-Fachen entsprechen dem Einfachen.
Doch ist das 25-Fache wirklich genug? Kommt drauf an, lautet die richtige Antwort. Die 4%-Regel erlaubt in den meisten Fällen nur eine grobe Indikation. Tatsächlich sind die individuelle sichere Entnahmerate und das daraus resultierende benötigte Vermögen im Wesentlichen vom Alter der planenden Person abhängig.
Die 4%-Regel gilt nur für ältere Privatiers
Was oft unter den Tisch fällt ist, dass die 4%-Regel ursprünglich für einen 30-jährigen Entnahmezeitraum ermittelt wurde. Finanzplanungen, die auch das Risiko älter als der statistische Durchschnitt zu werden berücksichtigen (Langlebigkeitsrisiko), haben dagegen regelmäßig einen längeren Planungshorizont als nur 30 Jahre. Die Praxis zeigt: Wer den eigenen Lebensabend plant geht oft „vorsichtig optimistisch“ davon aus bis zu 100 Jahre zu erleben. Diese Vorgehensweise ist sinnvoll. Sie erlaubt jedoch aufgrund des längeren Planungshorizonts oft nur eine geringere Entnahmerate als 4% bzw. erfordert ein dementsprechend höheres Vermögen als das 25-Fache.
Geht der risikobewusste Privatier beispielsweise von einem gesamten Planungshorizont von 100 Jahren aus (Ansparphase + Entnahmephase), dann ergeben sich bei 2,5% Pleitegefahr und in Abhängigkeit vom Alter zu Beginn der Entnahmephase die folgenden Entnahmeraten bzw. benötigten Vermögen:
Als erster Orientierungspunkt soll uns die 4%-Regel für eine 30-jährige Entnahmephase dienen. Wer plant womöglich das stolze Alter von 100 Jahren zu erreichen, der darf erst ab einem Alter von 70 Jahren mit der 4%-Regel arbeiten (dunkelblaue Linie). Das benötigte Vielfache der jährlichen Ausgaben beträgt dann das 25-fache (hellroter Balken). Wer jünger als 70 ist, der benötigt dagegen ein entsprechend höheres Vermögen.
An dieser Stelle ein technischer Hinweis: Ich habe hier die Entnahmerate und das benötigte Vermögen statt wie sonst mit 0% mit einer Pleitewahrscheinlichkeit von 2,5% berechnet. Das bedeutet, bei der historischen Analyse würde man in 2,5% der Fälle das Vermögen bereits vor Erreichen des geplanten Laufzeitendes vollständig entsparen. Diese Änderung habe ich vorgenommen, um einen besseren Vergleich mit der 4%-Regel durchführen zu können. Denn bei ganz strenger Betrachtung mit einer 100%-Aktienquote sind 4% selbst im Alter von 80 nicht garantiert sicher, so dass ein Vergleich nicht möglich gewesen wäre.
Von der jüngeren FI-Community oft unterschätzt: Die Lifestyle-Inflation
Doch damit nicht genug. Die Rechnung unterstellt, dass die jährlichen Ausgaben im Zeitablauf konstant bleiben und ist daher zu stark vereinfacht. In der Praxis schwankt die Höhe der Ausgaben im Zeitablauf. Die Ergebnisse einer Studie zur Entwicklung der Ausgaben privater Haushalte des statistischen Landesamts Rheinland-Pfalz, welche uns hier als repräsentative Grundlage dienen wird, zeigen: Ein junger Mensch, der noch am Anfang des Lebens steht und heute mit wenig Geld auskommt, der sollte sich auf zukünftig steigende Ausgaben vorbereiten. Umgekehrt dürfen Menschen ab 50 damit rechnen in Zukunft ein geringeres Budget als heute zu benötigen. Ein wesentlicher Treiber für diese Entwicklung sind sicherlich neben anderen Ursachen auch Kinder und die Familiengründung.
Im Folgenden betrachten wir die relative Entwicklung des Ausgabenniveaus und nicht wie in der Studie absolute Zahlen. Dadurch werden die Ergebnisse auf einer breiteren Ebene anwendbar. Individuelle Verläufe mögen hiervon natürlich abweichen, der grobe Trend sollte aber für die Mehrheit ungefähr passen:
Die farbigen Linien repräsentieren jeweils eine eigene Alterskohorte. Ganz oben in blau: die heute 20-Jährigen. Diese Kohorte verzeichnet im Zeitablauf den stärksten Ausgaben-Anstieg. Nach ca. 30 Jahren, also im Alter von 50, müssen heute 20-Jährige damit rechnen das ca. 1,86-fache der heutigen Ausgaben als Budget zu benötigen. Für heute bereits 25-Jährige (rot), fällt dieser zukünftige Anstieg geringer aus, denn die 25-Jährigen haben heute bereits ein höheres Ausgabenniveau als die 20-Jährigen (ca. 1,2-mal so hoch).
Selbst heute 40-Jährige (hellblau) müssen sich für die nächsten 10 Jahre auf einen milden Anstieg des Ausgabenniveaus einstellen, bevor dieses anschließend im Alter von 60 wieder auf den heutigen Wert absinkt. Erst ab einem Alter von 50 wendet sich das Blatt, d.h. das zukünftige Ausgabenniveau liegt immer unter dem aktuellen Niveau.
Die flexible Entnahmerate passt sich der erwartbaren Lifestyle-Inflation an
Mit dem Begriff Lifestyle-Inflation ist das sich im Zeitablauf verändernde, in vielen Fällen ansteigende Niveau der privaten Konsumausgaben gemeint. Zwar gibt es im Alter auch so etwas wie eine Lifestyle-Deflation, nämlich genau dann, wenn ab einem bestimmten Punkt die Ausgaben wieder zurückgehen. Jedoch ist diese Seite der Medaille weniger risikobehaftet, weshalb sich die Lifestyle-Inflation als gesamthafter Begriff für das Phänomen der im Zeitablauf schwankenden Konsumausgaben durchgesetzt hat.
Berücksichtigt man die Lifestyle-Inflation im Rahmen der Entnahmeplanung bei der Bestimmung des benötigten Vermögens, hat dies einen erheblichen Einfluss auf die Entnahmerate. Das Ergebnis ist die sog. an die Lifestyle-Inflation angepasste oder flexible Entnahmerate. Die ist insofern besonders, als dass die angepasste Entnahmerate im Zeitablauf variabel ist. Das zugrundeliegende Kapital, mit welchem die flexible Entnahmerate zwecks Bestimmung des absoluten Entnahmebetrags multipliziert wird, entspricht dabei immer dem inflationsindexierten Ausgangskapital.
Daraus folgt, dass ein heute risikoadverser 20-Jähriger, der womöglich noch 80 weitere Jahre vor sich hat, unter Berücksichtigung der zu erwartenden Lifestyle-Inflation gegenwärtig nur 1,84% p.a. (statt 2,57% p.a.) des aktuell vorhandenen Vermögens entnehmen darf. In 30 Jahren, wenn der heute 20-jährige Privatier 50 Jahre alt sein wird, werden die Ausgaben gemäß Statistik um den Faktor 1,86 gestiegen sein. Die hier ermittelte flexible Entnahmerate berücksichtigt diesen Effekt, indem sie zu diesem Zeitpunkt ebenfalls um den gleichen Faktor auf 2,37% x 1,86 = 4,41% hochskaliert werden darf.
Die flexible Entnahmerate ist also im Zeitablauf dynamisch an die Lifestyle-Inflation gekoppelt und verläuft im Falle eines 20-Jährigen gemäß Studie über die nächsten 80 Jahre wie folgt:
Man erkennt am Verlauf der Entnahme-Kurve sehr deutlich, dass diese parallel zu der oben dargestellten Budget-Entwicklung für einen 20-Jährigen verläuft. Die für einen bestimmten zukünftigen Zeitpunkt gültige Entnahmerate wird jeweils mit dem zu Beginn der Entnahmephase vorhandenen, inflationsindexierten Kapital (hier: dem im Alter von 20 verfügbaren Kapital) multipliziert, so dass das verfügbare Budget sich entsprechend den zu erwartenden Ausgabenänderungen anpasst.
Beispiel: ein heute 20-Jähriger erbt 500.000 Euro und fühlt sich daraufhin finanziell unabhängig. Denn gemäß der berühmten 4%-Regel dürfen von diesem Vermögen jedes Jahr 20.000 Euro entnommen werden. Das wären pro Monat gute 1.500 Euro und aus der Brille eines 20-Jährigen vermutlich ausreichend. Doch weit gefehlt! Unter Berücksichtigung der bis zu 80 Jahre andauernden Entnahmephase und der erwarteten Lifestyle-Inflation sind für den 20-Jährigen im ersten Jahr tatsächlich nur 2,37% von 500.000 = 11.850 Euro möglich. Das ist schon deutlich weniger und erscheint auch dem jungen Erben zu knapp. Immerhin: Im Alter von 50 erlaubt die flexible Entnahmerate eine inflationsindexierte Entnahme von 4,41% der ursprünglichen 500.000 Euro. Das liegt deutlich oberhalb des Budgets gemäß 4%-Regel, doch bis dahin wird sich sicher auch das Ausgabenniveau entsprechend angepasst haben. Denn mit 22.000 Euro Budget pro Jahr wird sich ein mitten im Leben stehender 50-jährigen Familienvater in Deutschland eher als Lebenskünstler statt als Privatier bezeichnen.
Sowohl bei der klassischen als auch bei der flexiblen (ausgabenindexierten) Variante nimmt das für die finanzielle Unabhängigkeit benötige Vermögen, ausgedrückt als Vielfaches der jährlichen Ausgaben, mit zunehmendem Alter ab. Der Verlauf ist bei der flexiblen Variante (blau) jedoch deutlich steiler. Dies liegt daran, dass neben der reinen Laufzeit hier auch die zukünftig zunehmenden bzw. abnehmenden Konsumausgaben berücksichtigt sind.
In jungen Jahren, wenn die zukünftigen Ausgaben höher als die gegenwärtigen ausfallen, liegt das tatsächlich benötigte Budget über dem gemäß der klassischen Variante. Wer die erwartete Lifestyle-Inflation ignoriert läuft Gefahr während der Entnahmephase den Gürtel ungewollt eng schnallen zu müssen. Ab einem Alter von 40 kippt jedoch das Bild. Wer hier weiterhin mit der klassischen Entnahmerate ohne Anpassung an das zukünftige Ausgabenniveau arbeitet, der geht womöglich ungewollt zu konservativ vor oder bleibt sogar hinter den eigenen Möglichkeiten. Denn wie dieser Artikel zeigt, kann je nach Renditeerwartung ein um nur wenige Jahresausgaben reduziertes Ziel-Vermögen einen deutlichen Einfluss auf die Dauer der Ansparphase haben.
Junge Privatiers haben es doppelt schwer. Die entsprechend lang andauernde Entnahmephase erlaubt nicht nur in der klassischen Betrachtungsweise eine deutlich unterhalb der populären 4%-Regel liegende Entnahmerate. Denn hinzu kommt auch noch ein weiterer Abschlag aufgrund der zu erwartenden Lifestyle-Inflation. Diese wird insbesondere in jungen Jahren gerne unterschätzt. Viele Bedürfnisse und Ansprüche entwickeln sich mit zunehmendem Alter auf eine Art und Weise wie man sie sich als junger Mensch nur schwer vorstellen kann. „Man sieht nur, was man weiß“ hat einst Goethe formuliert. Daraus resultiert insbesondere für Privatiers unter 40 ein Risiko den tatsächlichen Kapitalbedarf für die finanzielle Unabhängigkeit zu unterschätzen.